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Claus Peter Ortlieb
Der
Rhythmus des Absoluten
Eske
Bockelmanns "Im Takt des Geldes"
Uns modernen, in "Kopf" und "Bauch"
gespaltenen Subjekten erscheint kaum etwas so
eindeutig letzterem zugehörig, also in der eigenen
Körperlichkeit verwurzelt, wie unser Gefühl für
Rhythmus. Was rhythmisch ist und was nicht, mag sich allgemein
verbindlich nur schwer in Worte fassen lassen, und dennoch wissen wir
es, sobald wir es hören. Es liegt nahe, eine derart elementare
Empfindung als natürlich, zu unserer biologischen
Grundausstattung gehörig anzusehen, und so geschieht es denn
auch, wenn das Rhythmusgefühl etwa am Herzschlag oder am Takt
des (zweibeinigen) Gehens festgemacht wird. Aber so ist es nicht. Wie
so Vieles, was das Aufklärungsdenken fälschlicherweise
für "allgemein
menschlich" hält oder sogar in der
Biologie fundiert sieht, ist auch unser Rhythmus, der
Takt-Rhythmus nämlich, historisch spezifisch. Er tritt erstmals
zu Beginn des 17. Jahrhunderts und nur in Westeuropa auf, es gab ihn
nirgendwo sonst als eben in der bürgerlichen Gesellschaft, er
gehört zu ihr und nur zu ihr.
Dieser Befund
bildet den Auftakt des
fünfhundert Seiten starken Buches von Eske Bockelmann: "Im
Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens". Der Befund
selber wird auf mehr als hundert Seiten akribisch ausgebreitet. Er
besagt nicht etwa, dass es außerhalb der bürgerlichen
Gesellschaft so etwas wie Rhythmus nicht gegeben habe, nur war er
nicht dasselbe wie für uns. In Antike und Mittelalter ebenso wie
in den außereuropäischen Gesellschaften besteht Musik und
Poesie aus Elementen "erfüllter Zeit", deren Länge
in ganzzahligen Proportionen zueinander stehen. Die zugehörige
Quantitätsrhythmik entsteht durch den Wechsel langer und
kurzer Abschnitte und wird von uns (bei traditionalem Vortrag) als
rhythmisch gar nicht mehr wahrgenommen. Demgegenüber besteht die
moderne Taktrhythmik darin, ein Raster gleichlanger
Zeitintervalle, die zunächst leeren Takte, durch Elemente
auszufüllen, die nach dem Schema betont-unbetont aufeinander
folgen, ein Schema übrigens, das wir durch unsere Art des
Hörens
in die Töne auch selbst erst hineinlegen, indem wir sogar noch
einen gleichmäßig tropfenden Wasserhahn nach diesem Muster
hören. Der Verweis auf moderne Musik- oder Posiestile, die
dieser Gesetzmäßigkeit nicht folgen, verfängt hier
nicht: Sie werden von uns nämlich nicht als rhythmisch erlebt.
Dieser Wechsel des Rhythmusgefühls ist im Westeuropa des
beginnenden 17. Jahrhunderts nahezu schlagartig erfolgt und lässt
sich nicht auf Veränderungen in Musik und Poesie
zurückführen,
sondern ist umgekehrt deren Ursache. Bockelmann (S. 119) macht das
beispielhaft fest an dem "Buch von der deutschen Poeterey"
von Martin Opitz aus dem Jahre 1624, in dem dieser als erster die
Forderung erhebt, Verse seien von nun an als Akzentverse, also nach
dem Schema betont-unbetont zu dichten, weshalb Opitz selber seine
bisherigen Verse als unzureichend empfindet und nach den neuen Regeln
umschreibt. Offenbar wird zu dieser Zeit in den Subjekten ein Reflex
implantiert, der uns seither zwingt, dem Taktrhythmus zu folgen und
alles, was darin nicht aufgeht, als unrhythmisch zu empfinden, wie es
Opitz seinen eigenen, älteren Versen gegenüber erging, die
vor dem neuen Rhythmus nur noch als Knittelverse erscheinen.
Woher kommt dieser
Zwang? Bockelmann
macht sich auf die Suche und findet seine Ursache im Geld, genauer:
in der durch Geld vermittelten Vergesellschaftung, die dann im
weiteren Fortgang des Buches als Grund für zwei weitere
Phänomene dingfest gemacht wird, die der bürgerlichen
Gesellschaft und nur ihr in derselben Weise verhaftet sind wie der
Taktrhythmus, nämlich die (mathematische) Naturwissenschaft und
die neuzeitliche Philosophie. Die letzteren Zusammenhänge sind
nicht neu, werden aber im vorliegenden Buch so dargestellt. Allem
Anschein nach ist Eske Bockelmann ein Einzelkämpfer, so
empfindet er sich jedenfalls, wenn er die Genese allen neuzeitlichen
Denkens aufdeckt, die diesem bisher verborgen geblieben sei. Soweit
sie den positivistischen Mainstream betrifft, ist diese Feststellung
sicher richtig. Bockelmann aber rezipiert weder Marx noch Sohn-Rethel
noch die Kritische Theorie und auch nicht die neueren wert- und
wertabspaltungskritischen Ansätze zur Aufklärungs-,
Subjekt- und Erkenntniskritik. Seine Adressaten sind dem
Aufklärungsdenken verhaftete Leserinnen und Leser, als könne
es andere gar nicht geben. Das macht die Lektüre des Buches
passagenweise ärgerlich, doch ich kann nur empfehlen, darüber
hinweg zu lesen, es lohnt sich. Bockelmann erfindet in verschiedener
Hinsicht das Rad neu, doch kommt dabei am Ende eben nicht nur das
alte Rad heraus. Seine Unkenntnis bzw. Nichtbeachtung bestehender
Ansätze zum Zusammenhang von "Geld und Geist" lässt
ihn eigene Wege gehen, von denen dann auch andere Zugänge
profitieren könnten. Man müsste sie nur zusammenbringen.
Bockelmanns Vorteil
ist es, mit dem
taktrhythmischen Reflex etwas erklären zu müssen, was sehr
präzise zu Beginn der Neuzeit in Erscheinung getreten ist und
keinerlei Vorläufer kennt. Anders als Sohn-Rethel und zum Teil
auch Adorno/Horkheimer (in "Dialektik der Aufklärung")
kann er daher gar nicht erst in Versuchung kommen, moderne
Verhältnisse in die griechische Antike rückzuprojizieren
und dort nach den gesuchten Zusammenhängen zu fahnden. Derartige
aus dem Aufklärungsdenken stammende Ansinnen weist er denn auch
auf allen betrachteten Ebenen (Geld, Wissenschaft, Philosophie)
begründet zurück. Auf der anderen Seite wäre ihm ein
Versuch, den voll entwickelten Kapitalismus in seinem Wesen und
seiner Rückwirkung auf die bürgerlichen Subjekte erfassen
zu wollen, für seine Fragestellung ebenfalls eher hinderlich.
Bockelmann konzentriert sich daher darauf, den zu Beginn des 17.
Jahrhunderts erreichten Stand der Geldvergesellschaftung möglichst
genau zu fassen und die anderen Bereiche daraus zu erklären.
Gelingt dies, so sollte es auch möglich sein, spätere
Entwicklungen des Denkens mit dem jeweils erreichten Stand
kapitalistischer Vergesellschaftung in Beziehung zu setzen, so etwa
die "wissenschaftliche Revolution" zu Beginn des 20.
Jahrhunderts, ein Problem, dessen Lösung meines Wissens noch
aussteht.
Mit Bockelmann
lässt sich der
Beginn des 17. Jahrhunderts als der historische Moment kennzeichnen,
in dem in den bürgerlichen Zentren Westeuropas das Geld beginnt,
sich gegenüber den (übrigen) Waren zu verselbständigen,
da sein Gebrauchswert unabhängig vom Material und allen
konkreten Inhalten nur noch darin besteht, Träger von Wert zu
sein, für den sich alle anderen Waren kaufen lassen. Vom Inhalt
"löst
sich der Wert in dem historischen Moment, da das Geld bestimmende
Allgemeinheit gewinnt: wenn es ein historisch erstes Mal also
heißen
kann, »all things
came to be valued with money, and money the value of all things«.
Dann beginnt Geld - in diesem für uns prägnanten Sinn - Geld
zu sein,
indem es als Geld allein noch fungiert.
Der feste Bestand, den es bis dahin nur im wertvoll gedachten
Material hatte, geht dann nämlich über in die
bestandsfeste Allgemeinheit des Bezugs aller Dinge auf den
Geldwert - und also in dessen für sich genommen festes
Bestehen. Wenn die Handlungen des Kaufens und Verkaufens für die
Versorgung bestimmende Allgemeinheit erlangen, entsteht damit
die allgemeine Notwendigkeit, den Markt, zu dem es dafür
gekommen sein muss, als das Geflecht dieser Kaufhandlungen
fortzusetzen, ganz einfach deshalb, damit die Versorgung, die daran
hängt, nicht ihrerseits abreißt. Die Notwendigkeit,
allgemein über Geld zu verfügen, übersetzt sich so in
die Allgemeinheit, mit der die Geldfunktion auch weiterhin
notwendig ist; und übersetzt sich damit in die Festigkeit dieser
Funktion als einer für sich bestehenden Einheit.
...
Der
gesellschaftliche Zusammenhang von Geldhandlungen, der Markt,
lässt
den Wert sich also vom Material lösen, macht ihn zu einem
nicht-material, nicht-inhaltlichen und insofern - man halte
kurz die Luft an - zu absolut
gedachtem Wert. ... Nicht das Metall der Münze, nicht das Papier
eines Geldscheins ist uns wertvoll, nicht in dessen vielleicht
kunstvollem Druck besteht für uns sein Wert, sondern darin, dass
sich dieser Wert in einer Geldhandlung realisiert, und zwar
zuverlässig wird realisieren lassen ... (Wir) denken
diesen Wert nicht in der Materie des Stücks Papier, sondern
allein darin, dass sie uns seinen Gebrauch als Wert
verbürgt.
Wert ist sie uns allein in diesem Gebrauch, der uns auf solche
materiale oder egal welche andere Weise verbürgt wird. Als Wert
denken wir, in der Form einer quantifizierbar für sich
bestehenden Einheit, eben diesen Gebrauch, die Funktion des
Geldes.
So - und so einfach - denken
wir Wert als absolut,
als die quantifizierbare Einheit der Geldfunktion. Was aber,
wenn absolut, ist dann diese Einheit »Wert«,
worin besteht sie, als was bewegen wir sie in unseren
Köpfen, die da unablässig, stündlich, täglich,
ein Leben lang mit ihr befasst sind? Der universelle Bezug auf Waren
als Werte, den wir mit dem Geld vollziehen, scheint uns im Geldwert
als ein eigenes Ding zu bestehen, als ungreifbar immaterielles,
eigenschaftsloses Wesen, festesten Bestands, aber ohne allen Inhalt
und, mehr und genauer noch, jenseits allen Inhalts, eben weil es
jenen universellen Bezug auf die Inhalte selbst und abgetrennt
von ihnen darstellt. Es ist also notwendig bezogen auf Inhalte und
insofern das Gegenteil von absolut; zugleich aber ist es
unabhängig
davon, auf welche Inhalte es jeweils bezogen wird, und,
indem es nichts darstellt als diesen Bezug, also ohne auch nur
abstrakt leerer Inhalt zu sein - wie es als solcher etwa der
Wert eines Goldstücks wäre - , besteht es selbst als
dieser von den Inhalten abgetrennte Bezug auf sie; insofern
aber absolut. Die Einheit, als die wir Wert denken, ist demnach, der
bloße Bezug als Einheit genommen, reine Verhältnisbestimmung
und in diesem Sinne endlich, reine Einheit." (S. 225 ff,
Hervorhebungen im Original)
An dieser Kennzeichnung der
Wertabstraktion hängt gewissermaßen die Gesamtkonstruktion
des Buches, der Rest ergibt sich fast von allein. Der Wertbegriff,
der hier entwickelt wird, ist - obwohl nicht subjektiv -
nur auf die Sphäre der Distribution bezogen, er kommt ohne
"Wertsubstanz" aus, von der Arbeit also ist an keiner
Stelle die Rede, weshalb es auch nicht möglich wäre, eine
Wertgröße aus ihm abzuleiten. Aber darum geht es
Bockelmann nicht. Ihn interessiert allein, was das Geld in den von
ihm vergesellschafteten Subjekten anrichtet, wie es sie konstituiert.
Allerdings wäre es an dieser Stelle durchaus angebracht, eine
Verbindung zum Marx'schen Fetischbegriff herzustellen, sie würde
Bockelmanns Darstellung noch mehr Stringenz verleihen.
Die hat sie so schon. Auch wenn
Bockelmann diesen Begriff nicht benutzt, so beschreibt er hier eine
Realabstraktion par excellence. Sie liegt nicht - wie
bei Sohn-Rethel - bereits in der Tauschhandlung, sondern in der
bestimmenden Allgemeinheit des Geldes, und gehört deshalb
eindeutig erst der Neuzeit an. Sie verlangt den Marktteilnehmern eine
Abstraktionsleistung ab, die sie erbringen müssen, ohne sie als
bewusste Denkleistung zu vollziehen: "Sie wissen es nicht, aber
sie tun es" (Marx), bzw. sie müssen es tun. Sie müssen
sie um ihrer Überlebensfähigkeit willen als einen Reflex
ausbilden, der fortan als ein ihnen nicht bewusster Zwang nicht nur
die Geldhandlungen, sondern ihren Zugang zur Welt überhaupt
bestimmt:
"Dies
die Form, in der kein Mensch bis dahin hatte denken müssen und
keiner daher hatte denken können, die neuzeitlich bedingte
synthetische Leistung, welche die Menschen damit aufzubringen haben:
zwei auf Inhalte bezogene, selbst aber nicht-inhaltliche Einheiten im
reinen Verhältnis von bestimmt gegen nicht-bestimmt. Diese
Synthesis wird dem Denken, so bedingt, zur Notwendigkeit und zum
Zwang.
...
Ihren
genuinen Bereich hat diese Synthesis im Umgang mit Geld, und ebendort
haben die Menschen sie anzuwenden auf alle, unbestimmt welche
Inhalte, haben sie die reine Einheit »Wert«
auf gleichgültig welchen Inhalt zu beziehen. ... Über
die ältere und ebenfalls synthetische Leistung materialer
Denkform, nämlich Wert in den Dingen zu denken und sie nach
diesem inhärent gedachten Wert aufeinander zu beziehen,
legt sich die neue, funktionale Leistung, ihn zu formen in die
nicht-inhaltlichen Einheiten.
Ganz
entsprechend der Vorgang in der Rhythmuswahrnehmung. Dort war bis
dahin ebenfalls eine ältere synthetische Leistung am Werk, nach
der die Menschen Klangeinheiten als Einheiten erfüllter Zeit
proportional aufeinander bezogen, nach inhaltlichen
Bestimmungen und also wiederum material. Wenn nun die
funktionale Synthesis am Geld wirksam wird und dank ihrer Genese
keine Beschränkung darin kennt, auf welche Art von Einheiten sie
sich zu legen hat, legt sie sich daher notwendig auf andere
synthetische Einheiten, die sie im »Denken«
dort, wo sie wirkt, bereits vorfindet und die ihrer Art des Zugriffs
vor allem sehr gut nachgeben können: Die materialen,
erfüllten
Zeiteinheiten formt und verbindet sie nunmehr nach ihnen, den
funktionalen Bestimmungen und schafft sie damit zu den leeren, nach
bestimmt gegen nicht-bestimmt unterschiedenen Zeiteinheiten der
Taktschläge." (S. 229 ff, Hervorhebungen im Original)
Die damit
geleistete Erklärung der
neuzeitlichen Rhythmuswahrnehmung aus der Geldvergesellschaftung ist
trotz des entsprechendem Titels des Buches nicht dessen eigentliches
Thema, das viel weiter reicht. Dennoch spielt dieser Auftakt auch im
weiteren Gang der Erörterung eine Rolle. Mit ihm kann Bockelmann
seine eigene Denkbewegung erklären, und das ist wohl auch
nötig
angesichts seiner These, alle neuzeitliche Wissenschaft und
Philosophie, da ihrer eigenen Genese nicht bewusst, befinde sich im
Irrtum, bis jetzt.
"Wie
kann es sein, dass all dies so lange nicht erkannt wurde? Gute vier
Jahrhunderte hätte jenes Konstituens der gesamten Neuzeit im
Verborgenen gewirkt? Und die schärfsten Geister und ihre
genaueste Reflexion wäre blind dafür geblieben? Hätten
zwar mit und nach ihm gedacht, doch nicht gewusst, was sie da taten?
Ja, so muss es sein und es ist kein Wunder. Kein Philosoph konnte und
kann, indem er noch so durchdringend auf seine Gegenstände
blickt, in den Blick bekommen, was schon seinen Blick bestimmt,
dasjenige, durch das hindurch er seine Gegenstände sieht.
Niemand vermöchte gleichsam die Färbung der Gläser zu
erkennen, durch die sich ihm die Welt so gefärbt zeigt, wie sie
es sind, allein indem er auf diese Welt schaut. Kein Philosoph, keine
Größe der Naturwissenschaft und auch niemand sonst
könnte
auf diese Weise zu einem anderen Urteil kommen als zu dem: Weit und
breit von Färbung nichts zu sehen! Kein Begriff und keine
Reflexion gelangt noch hinter das, was vor aller Reflexion und vor
allen Begriffen liegt und sie eben dadurch immer schon formt.
Dorthin
zu gelangen, das konnte nur gelingen, wo sich dies Formende in seiner
Wirkung gerade so begriffslos und unreflektiert zeigt, wie es dies in
sich ist. Der einzige Ort solcher Wirkung aber ist der Rhythmus, der
neuzeitliche, der Taktrhythmus." (S. 487 ff)
Diese im Kontext des Buches durchaus
schlüssige Erklärung erscheint mir gleichwohl unzureichend:
Zum einen hat Bockelmann den Taktrhythmus ja nicht erstmals als
für
die bürgerliche Gesellschaft historisch spezifisch entdeckt,
dieser Sachverhalt ist schon länger bekannt, sondern ihn mit der
Geldvergesellschaft in Verbindung gebracht, eine nicht zu
unterschätzende Leistung auch und insbesondere dies, aber eben
nicht dieselbe. Und zum anderen, ich sagte es bereits: So einsam, wie
Bockelmann zu sein glaubt, ist er nicht. Seit der späten
Veröffentlichung der Werke Sohn-Rethels Anfang der 1970er Jahre
ist die Diskussion über den Zusammenhang von Gesellschaftsform
und Erkenntnisform nicht mehr abgerissen, auch wenn Sohn-Rethels
Ansatz selber diesen Zusammenhang noch nicht wirklich nachweisen
konnte. Da zumindest doch seither denkbar ist, was als Erster gedacht
zu haben Bockelmann von sich fälschlicherweise annimmt, ist eher
nach einer anderen, tiefer liegenden Ursache zu suchen, etwa dieser:
Dass es mit der in Rede stehenden Denkform selber ebenso zu Ende geht
wie mit der ihr zu Grunde liegenden Warenform.
In einer weiteren
Hinsicht ist der
Befund von Interesse, dass die Geldvergesellschaftung nicht nur das
bewusste Denken, sondern noch vorbewusste Reflexe bestimmt, wirft er
doch ein bezeichnendes Licht auf die Konstitution des modernen
Subjekts:
"Ich
will es einmal an dem beliebten Modell durchspielen, welches Freud
zwar aufgestellt, selbst aber nur zurückhaltend gebraucht hat,
nach dem Modell von Es, Ich und Über-Ich. Die Rhythmusempfindung
müsste auf Grund ihrer unwillkürlichen Präsenz
zweifellos zum Bereich des Es zählen, und ebenso sicher zum
Bereich des Über-Ich die Anforderungen, durch die sich das Ich
durchs Geld hinauf und hinab bis in seine feinsten und gröbsten
sozialen Verhaltensmuster hinein gestellt sieht. Zwischen beiden
Bereichen hätte das modellhafte Ich nun zu vermitteln und in
dieser Vermittlung sich zu festigen. Wenn nun aber die Synthesis am
Geld unmittelbar identisch ist mit der taktrhytmischen, so tritt auch
jenes Über-Ich direkt und unvermittelt bereits im Es auf, wie immer es durchs Ich
vermittelt dorthin gelangt sein sollte.
Das Es bleibt also nicht, wie es gedacht war, Bereich der
ursprünglichen Triebe, die im Ich erst in Richtung Über-Ich
gemodelt würden, sondern es trägt in sich noch das
Äußerste
an Abstraktion, was dem Über-Ich nur entstammen kann. Das
Über-Ich ist schon allhier im Es, die Struktur des Geldes im
triebhaft-natürlichen Reflex. Der Ausgleich, den das Ich zu
treffen hätte zwischen Es und Über-Ich, ist keiner mehr, da
er längst besteht. Das Ich erarbeitet keinen Ausgleich, sondern
ist kurzgeschlossen zwischen Polen, die einander vorweg ausgeglichen
haben, die einander gleich sind und von denen das Ich gar keine Kraft
und keinen Anlass mehr findet sich zu unterscheiden. So wird der
Inbegriff von Außen, das Geld, zu einem Äußersten an
Innen - unentrinnbar, umfassend, allüberall: im Es, im Ich
im Über-Ich." (S. 239 ff, Hervorhebungen im Original)
Das sei allen ins Poesiealbum
geschrieben, die ihre Berufung auf "Bauch",
Unmittelbarkeit oder das "wirkliche Leben" bereits für
einen Akt des Widerstands gegen das abstrakte Allgemeine halten.
Die zweite
Hälfte des Buches
befasst sich mit dem modernen Denken im engeren Sinne, und zwar in
Gestalt der neuzeitlichen Naturwissenschaft und der durch das
"Erkenntnisproblem" sich konstituierenden neuzeitlichen
Philosophie, auch sie vom Zwang der "funktionalen Synthesis"
des Geldes determiniert. Hinsichtlich der Naturwissenschaft gibt es
viele Übereinstimmungen zu bestehenden Ansätzen, die
genauer zu erörtern hier nicht der Platz ist (s.
http://www.exit-online.org/html/schwerpunkte.php,
Schwerpunkt Wissenschafts- und Erkenntniskritik): Die aus der
Gesetzesförmigkeit der Warengesellschaft blind hervorgehende,
daher aber vortheoretische Annahme, die Natur gehorche mathematischen
Gesetzen, und die Charakterisierung des Experiments als Veranstaltung
zum Zwecke der Herstellung (nicht der bloßen Beobachtung) von
Gesetzmäßigkeiten:
"Das
Experiment ist das Medium zur Verwandlung von Natur in
Funktion. Der neuzeitlich veränderte Blick auf das empirisch
Gegebene ist keiner der Betrachtung mehr, sondern dringt ein, um das
darin zu finden, was er voraussetzen muss, das gesetzmäßige
Verhalten." (S. 354, Hervorhebung im Original)
Auch die fehlende Bewusstheit
für
das eigene Handeln auf Seiten der naturwissenschaftlich Tätigen
findet bei Bockelmann eine Begründung:
"Welt
und Natur werden funktional gedacht: das heißt - solange
die Genese der funktionalen Denkform unerkannt bleibt -,
sie werden gedacht, als wäre die funktional gedachte ihre
wirkliche Form. Danach muss es die Naturgesetze wirklich so
geben, wie wir sie denken und voraussetzen, wirklich in dieser Form
funktionaler Nicht-Inhaltlichkeit." (S. 358, Hervorhebungen im
Original)
An dieser Stelle wäre eine
explizite Auseinandersetzung mit Kant von Interesse, die im Buch
unterbleibt. Kant, der wie kaum einer vor oder nach ihm die
funktionale Denkform als Vernunft schlechthin propagiert, von
ihrer Genese in der Wertform mithin nichts gewusst hat, hat gleichwohl
gewusst,
dass
die Gesetzmäßigkeit keine Natureigenschaft ist, sondern zu
den Vernunftprinzipien gehört, die wir an die Erkenntnisobjekte
herantragen müssen; auch der damit verbundene Zwang
war ihm geläufig, er hat ihn bewusst affirmiert.
Wenngleich
Bockelmann mit seinem
Ansatz der funktionalen Synthesis Vieles genauer erfasst, als
das bisher geschehen ist, so bleiben gewisse einschlägige
Charakteristika der Naturwissenschaft bei ihm doch ausgeblendet,
nämlich diejenigen, die erst einer in die Tiefe gehenden
Subjekt- und damit Wertabspaltungs-Kritik zugänglich
sind: So etwa die - bei Bacon sehr deutliche -
geschlechtliche Konnotation der Naturerkenntnis, ebenso die doppelte
Abspaltung im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess, der Spaltung
also nicht nur des Objekts, die von Bockelmann immerhin angedeutet
wird, sondern auch des Erkenntnissubjekts, das sich aller
individuellen Eigenschaften und weitgehend der eigenen
Körperlichkeit
zu entledigen hat, um zu objektiver Erkenntnis zu gelangen. An dieser
Stelle, wie vermutlich auch noch an anderen, wäre es lohnend,
die verschiedenen Ansätze zusammenzubringen.
In seiner
Auseinandersetzung mit der
neuzeitlichen Philosophie am Beispiel von Descartes, Spinoza und
Leibniz zeigt Bockelmann, wie der Zwang, alles "in der
ausschließenden Form reiner Einheit und rein bezogener Einheit
zu denken" (S. 377), worunter sich nun mal die Welt als Ganze
nicht fassen lässt, entweder in logischen Widersprüchen
(Descartes) oder aber im Wahnsystem (Leibniz) enden muss, womit die
Leibniz'sche Monadologie durchaus adäquat bezeichnet ist, auch
wenn ihr sehr viel später bescheinigt wurde, sie habe die
Verhältnisse der spätkapitalistischen Gesellschaft
vorhergesagt, woran Leibniz selber aber nie gedacht hat noch hat
denken können:
"Die
Menschen, monadisch jeder für sich, alle fensterlos und ohne
Verbindung zu den anderen in ihr Einzelinteresse gebannt, welches sie
verfolgen, als gäbe es nur jeweils sie auf der Welt, stimmen
doch genau darin mit allen anderen überein und fügen sich
so, im blinden Verfolg des je nur Eigenen, insgesamt zum Universum
der Marktbeziehungen und der Marktgesellschaft:: So schien es Leibniz
nun mit den Monaden gemeint und so schien er es verblüffend
genau getroffen zu haben. ...
Hat
der große Monadologe daran gedacht, als er
philosophierte? Hat er seine Monaden auf diese
Verhältnisse
gemünzt? Hat er diese Verhältnisse gemeint?
Er
hat sie jedenfalls getroffen. Aber er hat nicht über sie
geschrieben, nicht über sie nachgedacht, keinen Gedanken auf sie
gewandt. Hätte Leibniz gesellschaftliche Verhältnisse, wie
er sie erlebte oder vielleicht nur für die Zukunft abzusehen
begann, in dieser monadischen Verfassung erkannt, nichts
hätte
ihn abgehalten, es auszusprechen. Er, der noch jeden Frosch auf diese
Form brachte, welches Bedenken hätte er getragen, auch hier zu
sagen, was er sah - wenn er es denn gesehen hätte? Hier
aber hat er nichts gesehen. Und hat doch etwas getroffen. Wenn man in
sehr viel späteren Zeiten verblüfft festzustellen hat,
schon im 17. Jahrhundert habe Leibniz die Form beschrieben, nach der
sich die menschlichen Verhältnisse jetzt so offensichtlich
modeln, verdankt sich diese Übereinstimmung keiner adäquaten
Erkenntnis des frühen Denkers. Leibniz hat nicht über
diese Verhältnisse nachgedacht, er hat nach ihnen
gedacht. Sie sind es, die ihm jene Form vorgeben, aber nicht als
Gegenstand, sondern als Modus der Erkenntnis. Sie sind es, die
zugleich jene äußere Gesellschaft formen -
damals zu formen begannen und weiter geformt haben bis heute -
und die dem Denken eben damit, wir wissen wie, jenen Erkenntnismodus
vorgeben. Es sind die Geldverhältnisse, die sich in
unserer monadisch verfassten Gesellschaft niederschlagen und diese
nach derselben Form bestimmen, welche sie dem Denken mittels
eben dieser Formung der Gesellschaft abverlangen und
einbeschreiben. Dies die historische Realität einer
prästabilierten Harmonie. Indem Leibniz nichts weiter tut, als
die Welt nach der funktionalen Abstraktion des Geldes zu durchdenken,
trifft er die Formung einer Gesellschaft, die nach dieser selben
Abstraktion eingerichtet ist: indem er ihr blind, ohne etwas davon
zu erkennen, folgt. So bildet er Gesellschaft ab. Und so - noch
einmal - zeigt sich dieses Denken im Innersten bestimmt durchs
Geld." (S. 480 ff, Hervorhebungen im Original)
Hier hat gewissermaßen das Geld
persönlich über seine Zukunft nachgedacht, musste sich dazu
allerdings eines der von ihm konstituierten philosophischen Köpfe
bedienen.
Abschließend
sei noch einmal auf
die Gesamtkonstruktion des Buches verwiesen: Bockelmanns gedanklicher
Ausgangspunkt ist die Konstitution der Subjekte durch den Markt und
die von ihm erzwungenen Geldhandlungen in dem historischen Moment, in
dem das Geld bestimmende Allgemeinheit erlangt. Die Konstitution der
Subjekte durch Arbeit und Wertabspaltung bleibt dagegen ausgeblendet.
Bockelmann hat aus dem von ihm ins Auge gefassten Teilaspekt der
Wertvergesellschaftung für die Erklärung der Genese des
modernen Denkens herausgeholt, was herauszuholen ist, dennoch: es
bleibt ein Teilaspekt an der
Oberfläche der Wertvergesellschaftung. Der Bezug auf ihn allein
könnte sich
zumindest für Untersuchungen, wie die von ihm bereits
angekündigte zur Quantentheorie, deren Gegenstände in der
entwickelten
kapitalistische Gesellschaft angesiedelt sind, als
unzureichend erweisen. Ein weiterer Einwand betrifft den Charakter
des Buches. Es handelt sich hier um etwas selten gewordenes,
nämlich
um Theorie in einem ganz klassischen Sinne, und die unterliegt als
solche ihrerseits der funktionalen Denkform, was sich im vorliegenden
Fall auch leicht festmachen lässt: Bockelmann bestimmt den
Taktrhythmus, die Naturwissenschaft, die neuzeitliche Philosophie
jeweils als Funktion eines durch das Geld in die Gesellschaft
gekommenen Denkzwangs. Der Einwand ist also berechtigt, er ist jedoch
nicht wirklich ein Einwand, sondern verweist nur darauf, dass Theorie
in der an ihr Ende gelangenden Warengesellschaft nur dann noch
sinnhaft sein kann, wenn sie einen Beitrag dazu leistet, sich aus der
ihr eigenen Denkform herauszuarbeiten. Und diesen Sinn hat das
vorliegende Buch allemal.
Das Schlusswort überlasse ich Eske
Bockelmann, im letzten Absatz seines Buches (S. 489):
"Es
sind die Menschen, die (den Zwang des Geldes) eingerichtet haben,
durch nichts sonst auf ihn verpflichtet als durch sich selbst. Aber
sie haben ihn eingerichtet zu dem, was ihre Welt im Innersten
zusammen hält; und glauben nun doppelt gezwungen - durch
ihn, den sie eingerichtet haben, und ihn, den sie fest schon in sich
tragen -, nicht sie hätten mehr über ihn, sondern er
allein über sie zu entscheiden. Und fast will mir scheinen, am
empfindlichsten seien sie gegen alles, was sie mahnt, dass sie darin
irren."
Eske Bockelmann: Im Takt des Geldes.
Zur Genese modernen Denkens, zu Klampen, Springe 2004